Was ist ein Bedürfnis?
Der Begriff Bedürfnis löst oft die Assoziation nach Bedürftigkeit aus. Viele glauben, dass sie dann bedürftig wirken und vielleicht auf die Hilfe von Anderen angewiesen sind. Allein diese Vorstellung lässt viele verkrampfen und sie trauen sich nicht ihr Bedürfnis zu benennen oder gar auszuleben bzw. zu erfüllen. Von daher ist es an erster Stelle wichtig, zu klären, was ein Bedürfnis überhaupt ist. Denn wir alle haben Bedürfnisse. Und alle wünschen sich, diese leben zu dürfen.
Ein Bedürfnis ist etwas Grundlegendes. Es ist ein Verlangen, einen empfunden Mangel zu befriedigen bzw. ein tatsächliches Defizit zu beheben. Vielleicht ist Ihnen die Bedürfnispyramide nach Maslow bekannt. Sie zeigt auf, welche Bedürfnisse wir alle haben.
Neben den Grundbedürfnissen Essen, Trinken und Schlafen, haben wir ein Sicherheitsbedürfnis (das erfüllen wir uns zum Beispiel durch Wohnung, Geld und Arbeit), ein soziales Bedürfnis (zum Beispiel nach Freundschaft, Liebe und Zugehörigkeit), ein Ich-Bedürfnis (zum Beispiel nach Anerkennung), das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und andere.
Alle unsere Bedürfnisse bauen aufeinander auf, was durch die Pyramide von Maslow sehr schön deutlich gemacht wird. Für Ihr Leben heißt das: Erst wenn ein Bedürfnis befriedigt ist, kann das nächste Bedürfnis wahrgenommen werden.
Als Beispiel:
Sie sind in einer Konferenz. Ihre Anmeldung erfolgte, weil Sie ein Bedürfnis nach Austausch mit Ihren Kollegen haben. Sie möchten mit ihnen in Verbindung sein und gerade solche Treffen machen Ihnen dies möglich. Für diese Konferenz haben Sie sich gut vorbereitet, Informationen gesammelt, die Sie gerne weiterreichen möchten. Mitten in der Podiumsdiskussion spüren Sie den Druck Ihrer Blase. Die Kaffeepause war einfach zu verführerisch, sodass Sie statt einer gleich zwei Tassen Kaffee getrunken haben. Während Sie nun merklich Ihren Blasendruck spüren, verlässt Sie Ihre Konzentration für das Gespräch. Ihr Wunsch eine Toilette aufzusuchen wächst mit jeder Minute und die Chance auf einen informativen Austausch wird pro Sekunde geringer. Ihre Konzentration für die Diskussion kann erst wieder steigen, wenn Sie ihre Blase entleert haben.
An diesem Beispiel wird deutlich, dass wir erst ein Bedürfnis befriedigen müssen, bevor wir uns dem zweiten zuwenden können. Die Grundbedürfnisse stehen immer an erster Stelle und alles andere kommt danach.
Jedes Bedürfnis, dass wir wahrnehmen, hat immer mit uns zu tun. Niemand anderes “macht” uns Bedürfnisse. Zugleich sind Bedürfnisse immer im Jetzt. Sie spielen weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft. In der Gewaltfreien Kommunikation verstehen wir Bedürfnisse unabhängig von Ort, Zeit und Person. Wichtig ist, dass Sie sie wahrnehmen und dankbar annehmen können – dann, wenn sie gerade in Ihnen lebendig sind. Durch das Wahrnehmen haben Sie die Möglichkeit, sich eine Strategie zur Bedürfniserfüllung zu überlegen.
Konflikte entstehen auf der Strategieebene zur Bedürfniserfüllung
Treffen verschiedene Interessen aufeinander, dann ist das zum einen Ausdruck eines lebendigen Miteinanders. Zum anderen können daraus Konflikte entstehen.
So wie jede Medaille zwei Seiten hat, so hat auch die Bedürfniserfüllung zwei. Die eine Seite ist die, dass Sie sich selbst etwas Gutes tun. Wenn Sie also ein Bedürfnis wahrgenommen haben, dann erfüllen Sie es sich. Das kann zum Beispiel geschehen, indem Sie sich etwas zu essen holen (Bedürfnis: Hunger), eine Reise buchen (Bedürfnis: Wachstum/Austausch mit anderen Kulturen) oder zu einem Seminar gehen (Bedürfnis: Lernen/Kommunikation). Das alles machen Sie für sich und niemals um damit jemand anderem zu schaden. Denn Sie wissen, dass Ihre Bedürfnisse zu Ihnen gehören und nur Sie dafür verantwortlich sind.
Die andere Seite der Medaille wird sichtbar, wenn sich andere an Ihren Ideen stoßen oder ihnen Ihre Umsetzung missfällt. Daraus können dann Konflikte entstehen, welche die Kommunikation und das Miteinander belasten. Um Konflikte oder Streits beizulegen, ist es wichtig darüber zu reden. Leider wird dann häufig auf der Strategieebene diskutiert, ohne das dahinterliegende Bedürfnis zu ermitteln und wahrzunehmen.
Ein Beispiel:
Helga und Kim sitzen in einem Zweierbüro. Zum Mittagessen bringt sich Kim täglich eine eigene Brotdose mit. Helga liebt es dagegen in die Kantine zu gehen. Heute gibt es in der Kantine Gyros mit Knoblauchsauce. Helga liebt Knoblauch und dementsprechend groß ist die Portion.
Kim geht es an diesem Tag nicht so gut. Der Wetterumschwung bringt Kopfweh mit sich, was die Konzentration beim Arbeiten stark beeinflusst. Nach der Mittagspause kommt Helga zurück ins Büro, setzt sich an den Schreibtisch und geht ans Werk. Die Knoblauchsauce macht sich derzeit im Raum breit. Bei diesem Duft hat Kim große Schwierigkeiten sich auf die Arbeit zu fokussieren.
Eine Diskussion zwischen den beiden entbrennt darüber, ob Knoblauchsauce während der Mittagspause gegessen werden darf oder nicht. Die Diskussion wird so heftig, dass Kim schließlich früher nach Hause geht und darauf hofft, dass der Geruch morgen aus dem Büro verschwunden ist.
In diesem Gespräch haben beide Gesprächspartner auf der Strategieebene diskutiert und ihre Bedürfnisse dabei außeracht gelassen. Hätten die beiden sich ihre unterschiedlichen Bedürfnisse bewusst gemacht, hätten sie die Chance gehabt eine gemeinsame Lösung zu finden, statt sich in der Diskussion zu verlieren.
Zurück zum Beispiel:
Kim hat das Bedürfnis nach klarer und sauberer Luft, um sich trotz Kopfweh weiter auf die Arbeit konzentrieren zu können. Helga hat das Bedürfnis nach Geselligkeit in der Mittagspause und nach Essen, um die anliegenden Aufgaben bis zum Feierabend gewissenhaft zu erledigen.
Somit treffen unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander und damit auch verschiedene Strategien zur Bedürfniserfüllung.
Statt nun die Diskussion über den Knoblauchgeruch zu führen, haben beide die Chance ihre Bedürfnisse – die in diesem Moment lebendig sind – mitzuteilen. Damit hat das Gegenüber eine Chance, zu erfahren, wie es dem anderen gerade geht und kann darauf reagieren. Gemeinsam kann dann eine Lösung gefunden werden, mit der alle Bedürfnisse erfüllt werden, ohne dass sich jemand eingeschränkt fühlt.
Im oben genannten Beispiel könnte eine Lösungsidee sein, das Fenster zu öffnen, damit der Geruch neutralisiert wird. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Helga sich bereit erklärt, zukünftig auf Knoblauch während der Arbeit zu verzichten und sich für diesen Moment einen Kaugummi besorgt. Eine andere Option könnte sein, dass Kim oder Helga einer Tätigkeit nachgeht, die außerhalb des Raumes stattfindet.
Konflikte entstehen durch die Strategie zur Bedürfniserfüllung und nicht durch das Bedürfnis selbst. In gemeinsamen Gesprächen kann das Bedürfnis herausgearbeitet werden und dann ein konstruktiver Umgang mit Konflikten stattfinden.